Wie so oft hat mir heute das Radfahren sehr dabei geholfen, da mal etwas Klarheit hineinzubekommen, wieder mehr bei mir zu sein und von dieser schrecklichen inneren Unruhe etwas herunterzukommen.
Dabei sah es heute Morgen gar nicht nach einem schönen Fahrradtag aus und ich musste mich ziemlich überwinden, bis ich auf meinem MTB saß. Das kennt ihr bestimmt auch, es dauert ewig bis die Sachen zusammen gesucht sind, das Fahrrad startklar und alles gepackt ist. So eine Art Verzögerungstaktik, weil man hofft doch einen Grund zu finden, lieber zu Hause zu bleiben oder etwas anderes zu unternehmen. Dies ist dann immer ein ziemliches Dilemma für mich, höre ich auch meinen Kopf, der sagt, heute fährst du Fahrrad oder auf mein Gefühl, welches nicht in die Nässe und Kälte will.
Eigentlich sollte man ja eher auf sein Gefühl und seinen Bauch hören, so wird das bei jeder Therapie gepredigt. Dieses hört sich in der Theorie auch immer alles ganz toll und schlüssig an, bloß würde ich damit meistens nicht weit kommen, weil dann fast immer der innere Schweinehund gewinnen würde.
Vor allem tun mir Dinge, auf welche ich eigentlich keinen großen Bock und Lust zu habe, am Ende fast immer ziemlich gut, wie ich aus Erfahrung weiß. Bloß handele ich, um dort hinzukommen, oft gegen meine Gefühle und richte mich, nachdem was mein Kopf mir sagt. Da muss ich dann immer an die Karte denken, welche bei meinem Therapeuten auf dem Tisch liegt: “Glaube nicht alles was du denkst!” Dieser Spruch liegt seit einiger Zeit auf dem kleinen Tisch, welcher zwischen den beiden Sesseln steht, auf denen wir sitzen. Dass es beim Therapeuten eine Couch gibt, ist so ein Fernseh- und Hollywood Ding. Ich war bestimmt schon bei 15 Therapeuten und in noch mehr Therapieräumen aber bis jetzt gab es nie eine Couch! Zu liegen und mich nicht auf Augenhöhe zu unterhalten, wäre allerdings auch absolut nicht mein Ding und nicht vorstellbar für mich.
Aber diese Karte, welche auf diesem kleinen Tischchen liegt, beschäftigt mich schon länger. Liegt die dort extra für mich, soll sie mir etwas Bestimmtes sagen oder liegt die einfach nur so da rum, weil mein Therapeut den Spruch gut findet. Keine Ahnung warum ich bis jetzt noch nicht nachgefragt habe, was es mit der Karte auf sich hat aber bei meinem nächsten Termin, werde ich das machen und euch davon berichten.
Zurück zu dieser Ambivalenz, was mein Kopf mir sagt und was der Bauch will. Dieses Paradoxon werde ich wohl nie ganz gelöst bekommen, allerdings weiß ich mittlerweile, dass dies jeder hat. Früher dachte ich immer, das geht nur mir so das ich oft nicht weiß oder bemerke, was ich möchte, wie es mir geht oder was am besten für mich ist. Damit hat jeder Mensch seine Probleme und keiner ist darin perfekt, alle seine Gefühlsregungen zu deuten und sich danach zu richten, dass weiß ich mittlerweile und es beruhigt mich ein bisschen. Sicherlich ist bei mir der übliche F60.31 Zuschlag dabei, der bedeutet, das ich die meisten Emotionen mal zehn multiplizieren kann, im Vergleich zu “normalen” Menschen.
Zu wissen, ich bin nicht alleine, hat mir auch damals sehr geholfen, dass ich mit meinem Gefühlschaos und meinen kaum zu kontrollierenden Emotionen nicht alleine bin, es eine Ursache und eine Diagnose dafür gibt. Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie von dieser psychischen Krankheit gehört und wusste erst einmal gar nichts damit anzufangen. Aber das Kind hatte mal einen Namen, es gab einen Ansatzpunkt und vielleicht auch die Chance auf Heilung oder zumindest Besserung, denn so wirklich heilbar ist diese Diagnose nicht aber man kann lernen, ziemlich gut damit zu leben.
Diese Diagnose “emotional instabile Persönlichkeitsstörung” oder “Borderline” war allerdings auch ein ziemlicher Stempel, welchen ich verpasst bekommen hatte, wobei ich weder die eine noch die andere Bezeichnung mag. Es gibt einfach viel zu viele Vorurteile über Borderline und Schubladen wo man automatisch hineingesteckt wird. Auch unter Profis sind diese Patienten nicht wirklich beliebt, weil sie schwierig zu therapieren sind, eine hohe Rate beim Abbrechen der Therapie haben, fast immer eine Komorbidität vorhanden ist und die Behandlung sehr langwierig ist. Wobei ich zugeben muss, alle diese Aspekte habe ich völlig erfüllt und bestätigt, gerade bei meinen ersten Klinikaufenthalten und Therapien.
Auch heute ertappe ich mich noch oft bei den typischen Borderline Strategien und Verhaltensweisen, gerade wenn es um Nähe & Distanz geht, vor allem wenn mir Menschen viel bedeuten.Dabei sind viele Borderliner unheimlich emphatisch und einfühlsam, sind sehr kreative und intelligente Menschen. Deshalb sind wohl auch so viele Künstler und Schauspieler unter den Betroffenen. Wohl auch fast alle Musiker aus dem Club der 27iger, dies ist allerdings ein anderes interessantes Thema.