Ein wirkliches Rezept habe ich noch nicht gefunden, wie ich mich da möglichst wenig daran beteilige, da es im Grunde genommen unmöglich ist, sich dem zu entziehen. Zumindest hat sich ein Bewusstsein und eine gewisse Achtsamkeit dafür bei mir entwickelt.
Ein weiter Punkt, warum einfach und reduziert leben zu Hause so schwierig ist, liegt in der ständigen medialen Ablenkung. Dort habe ich den ganzen Tag schnelles Internet zur verfügbar. Das Fernsehen ist flott eingeschaltet, um mich ein bisschen abzulenken und berieseln zu lassen. Da einfach nein zu sagen, die Dinge nicht zu benutzen, ist wirklich völlig schwierig. Meinen Fernsehkonsum habe ich mal ziemlich heruntergeschraubt und streame lieber mal ganz bewusst eine Serie oder einen Film. Aber dieses ständige Hintergrundberauschen durch Fernsehbilder und Ton, habe ich mal ziemlich unterbunden.
Mit dem Internet und den sozialen Plattformen funktioniert dies leider noch nicht so wirklich. Da verbringe ich noch viel zu viel Zeit mit oder darin, das muss ich mir ehrlich eingestehen. Auch zu Hause einfach mal nichts tun, nur auf der Couch liegen, seinen Gedanken nachhängen oder ein bisschen aus dem Fenster schauen, schaffe ich jetzt auch noch nicht so wirklich.
Durch diese ständigen Möglichkeiten, egal welcher Art, die sich den ganzen Tag zu Hause bieten, ist auch immer eine gewisse innere Anspannung und Stress gegeben. Ständig muss der Kopf Informationen verarbeiten, diese bewerten und darauf reagieren oder nicht. Vieles läuft völlig unbewusst und automatisiert ab, trotzdem kostet auch das Kraft und Ressourcen.
Durch Corona kommen jetzt auch noch neue Herausforderung dazu. Zum Einen das Homeoffice und die reduzierten sozialen Kontakte.
Im Homeoffice verschwimmen die Grenze zwischen Arbeit und Zuhause. Schnell mal am Laptop zu Mittag gegessen, abends noch nach den E-Mails geschaut oder etwas hochgeladen. Auf der anderen Seite, ein paar Dinge des täglichen Lebens zwischendurch erledigen. Mal schnell die Wäsche in den Trockner werfen, für den Briefträger an die Tür gehen und so weiter.
Es ist wirklich Arbeit oder besser gesagt, es gehört ganz viel Disziplin dazu, seinen geregelten Tagesablauf zu finden und diesen einzuhalten. Nicht noch am Nachmittag in den Schlafklamotten am Laptop sitzen und vor allem regelmäßige Pausen einzulegen, ohne diese direkt mit privatem Kram zu füllen.
Richtig schwierig wird es, wenn es noch gilt die Kinder zu betreuen oder sich nebenbei um das Homeschooling zu kümmern.
Dazu kommt dann noch, dass ich den ganzen Tag nicht viel anders sehe, wie meine Wohnung. Dadurch fallen ganz viele Eindrücke weg, welchen wir den Tag über so sammeln. Seien es Begegnungen, Gerüche, Bilder, Anregungen oder was auch immer. Zum Beispiel auf der Fahrt zur Arbeit, mal in der Mittagspause in die Kantine gehen oder sich mit einem Arbeitskollegen verabreden. Im Homeoffice geht alles nahtlos ineinander über, wodurch dem Kopf und dem Körper keine Zeit gegeben wird sich zu erholen oder sich auf die nächste Situation einzustellen. Gerade die Fahrt zur und von der Arbeit nach Hause, dient wie eine Art Schleuse, um sich auf das jeweils kommende einzustellen und sich, wenn auch oft unterbewusst, darauf vorzubereiten.
Dadurch ist der Körper und der Kopf, in ständiger Anspannung, es fehlen die Phasen des Loslassen und Entspannens. Denn nach diesem Schema ist jede Entspannungstechnik aufgebaut, gerade PME (Progressive Muskelentspannung), funktioniert nach genau diesem Prinzip. Anspannen und Loslassen!
Und genau auf diese ständige Anspannung muss ich persönlich unheimlich achten. Menschen mit einer Borderlinestörung haben schon im Leerlauf eine viele höhere Grundanspannung. Ähnlich einem Auto, wo das Standgas viel zu hoch ist. Vor allem, weil dies der Normalzustand darstellt, fällt es überhaupt nicht mehr weiter auf, dass die Grundanspannung so hoch ist. Das Ganze geht sogar so weit, das, wenn diese Anspannung fehlt, sehr schnell der Eindruck oder das Gefühl der Langeweile und Leere entsteht. Da dieses auch zu einem ziemlichen Problem bei Borderline gehört, wird natürlich versucht, diesen Zustand zu vermeiden oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Da entsteht natürlich schnell ein Teufelskreis.
Das Problem mit der hohen Grundspannung ist allerdings, wenn noch Ärger oder Stress hinzukommen, schnell das Fass überläuft. “Normale” Menschen haben eine Grundspannung von 10 %, wobei Menschen mit einer Borderlinestörung schon von Natur aus mit 40 % durchs Leben gehen. Bei 10 % kann einiges an Stress oder Ärger hinzukommen, weil viel Reserve nach oben ist, bevor der Kessel anfängt zu pfeifen. Bei Menschen mit einer hohen Grundanspannung, kann oft schon ein komischer Satz oder ein schräger Blick genügen, etwas Unvorhergesehenes geschieht oder etwas funktioniert nicht wie gewünscht, damit das Ganze in die Hochspannung kippt.
Von dieser, ohne irgendwelche selbstschädigenden Maßnahmen wieder runterzukommen, ist leider unheimlich schwierig. Dafür bedarf es viel der Übung und des Ausprobierens. Vor allem hilft nichts so gut und so schnell, wie die schlechten Ventile und Verhaltensweisen. Auf diese möchte ich wegen der Triggergefahr hier jetzt gar nicht weiter eingehen.
Am schwierigsten finde ich allerdings, dass im normalen Alltag, die Zeit und der Raum dafür oft fehlen, für alternative Strategien. Da kann ich nicht sagen, ich mache jetzt mal 30 Minuten Yoga, hole mir einen Icepack, schreie mal laut im Wald rum oder gehe 3 Stunden Fahrrad fahren. In der Klinik oder der Therapiestunde, habe ich die Gelegenheit mich um nichts anderes zu kümmern. Dies auch noch in einem geschützten Raum, wo mir Profis zur Seite stehen und auch eine spezielle Akzeptanz da ist.
Wobei ich hatte mal eine Therapeutin, die immer, wenn ich in Hochspannung war oder doch wieder mit meinen schädlichen Verhaltensmustern reagiert habe, gesagt hat: “Herr Loosen, dann beißen sie doch mal auf eine Chilischote!” Da hätte ich ja erst recht platzen können und ihr am liebsten geantwortet: “Schieben sie sich ihre Chilischote doch am besten in ihren Arsch!” Das habe ich nicht zu ihr gesagt und damals war ich auch noch nicht so weit, mir wirklich helfen zu lassen. Es war mein erster Klinikaufenthalt und ich völlig überfordert, wie meine damalige Therapeutin wohl auch mit mir. Diesen habe ich dann nach fünf Wochen abgebrochen, wobei die erste Feststellung meines damaligen Therapeuten zu Hause war: “Herr Loosen, ich hätte nicht gedacht, das sie es da so lange aushalten!”
Im alltäglichen Leben kann dies auch schnell geschehen in diese Hochspannung zu geraten, wobei ich die Anzeichen heute viel früher und besser erkennen kann, wenn ich mich auf dem Weg dorthin befinde. Allerdings es passiert und dann besteht nicht ständig die Möglichkeit mich runter zu regulieren. Gerade im beruflichen Alltag ist funktionieren und Leistung erbringen angesagt. Vor allem nicht auffallen und der Norm entsprechen!
Deshalb scheitern auch so viele Menschen mit einer psychischen Störung über kurz oder lang, wenn sie sich wieder in ihrem Alltag befinden und dort gefangen sind. Deshalb bedarf es oft mehrerer Klinikaufenthalte, bis dies gelingt. Auch wenn dies irgendwann gelingt ist es immer noch oft ein großer Kampf, der viel Willen und Mut erfordert, aber in erster Linie Zeit.